Ein kleines brasilianisches Reisetagebuch
die Hinreise
Am Samstagabend traf sich die 10-köpfige Reisegruppe am 10. August 2019 am Flughafen in Kloten. Nach dem problemlosen Nachtflug erreichten wir São Paulo in Brasilien im Morgengrauen. Die längere Prozedur am Zoll liessen wir über uns ergehen und wussten, dass wir von Schwester Jacinta sehnlichst erwartet wurden. Mit unserm kleinen Reisebus fuhren wir zuerst durch die Grossstadt São Paulo mit ihren rund 22 Millionen Einwohnern. Nachdem wir diese Megalopolis mit Hunderten von Hochhäusern, und dazwischen einfachen oder gar armen Siedlungsgebieten, hinter uns gelassen hatten, erreichten wir gegen Mittag die kleine Stadt Itapetininga. Dort befindet sich das Regionalhaus der Ilanzer Dominikanerinnen.
Nach dem herzlichen Empfang und einem schmackhaften, typisch brasilianischen Mittagessen mit Reis und Bohnen zogen sich einige unserer Reisegruppe ins Hotel zurück, andere wagten den Spa-ziergang durch die noch eher fremde Welt der pulsierenden Stadt Itapetininga.
der Einführungstag
Der Montag begann früh mit der Messe in der Hauskapelle im Regionalhaus. Bischof Gorgônio zelebrierte sie und nach dem Gottesdienst frühstückten wir gemeinsam mit ihm. Auch wenn unse-re sprachlichen Kompetenzen nicht grossartig waren, wir verstanden uns doch sehr wohl.
Der ganze Tag war dann der Einführung in Land, Kirche und Leben Brasiliens gewidmet. Alle Besu-che der Woche wurden vorbesprochen und die kommenden Tage geplant. Wie in der ganzen Wo-che, in der wir in Itapetininga lebten, wurden wir immer wieder von den Köchinnen mit einheimi-scher Kost bestens verpflegt. Auch die tropischen Früchte und Fruchtsäfte fehlten nie. Am späteren Nachmittag verabschiedeten sich drei Frauen von der Gruppe, um zu ihrem Projektbesuch nach Teresina im Bundesstaat Piauí im Nordosten Brasiliens zu fliegen.
die Projektbesuche
An den vier folgenden Tagen besuchte die Reisegruppe in kleinen Untergruppen die verschiedenen Projekte der Ilanzer Dominikanerinnen in Itapetininga, Teresina und Paranapanema. Die Besuche in den Sozialprojekten „CESIM“, dem „SOAMPARO“ und dem „Haus Maria Theresia“ wurden ergänzt durch Besuche in örtlichen Primarschulen und vor allem bei Familien, die in Elendsbehausungen vegetieren oder die durch Krankheit und Suchtproblemen verschiedener Art gezeichnet sind. Lesen Sie im Folgenden einige Blitzlichter auf diese Besuche.
„Fundação Cultural Nossa Senhora da Divina Providência“
Besonders eindrücklich erlebten die Reiseteilnehmenden den Besuch bei der „Fundação Cultural Nossa Senhora da Divina Providência“, die sich in besonderer Weise der Verbesserung der misslichen Wohnverhältnisse dieser Armen einsetzt. Dort wo Renovieren noch möglich ist, wird dies mit einfachen Mitteln, meist unter Mithilfe der Betroffenen, ausgeführt. Oft aber ist die Bausubstanz so schlecht, dass nur ein Abriss und Neuaufbau Sinn macht. Meist sind die Begünstigten der „Fundação“ so genannte „Moradores da Rua“, „Menschen der Strasse“.
Stellvertretend für alle besuchten Familien sei der Besuch bei einer russischen Flüchtlingsfamilie erwähnt. Der Mann ist Raumfahrtingenieur, die Frau ist Künstlerin, der Sohn ist mit 20 Jahren immer noch ohne Ausbildung. Sie haben kaum Sozialkontakte, weil sie extrem abgelegen in einer sumpfigen Flussaue vegetieren, die ihnen als „gutes Land“ verkauft wurde. Ohne die regelmässige Nahrungsmittelhilfe durch die „Fundação“ könnten sie kaum überleben. 5½ Jahren lebten sie illegal in Brasilien und sind heute als Flüchtlinge anerkannt. Sie finden keine Arbeit. Ihre Hütte steht in der Regenzeit regelmässig bis zu 2 Meter unter Wasser. Dann „wohnen“ sie auf dem etwas höhergelegenen Hügel in einem alten, ausrangierten Jeep, hockenderweise.
Die „Fundação“ hat nun erreicht, dass diese Flüchtlinge am Stadtrand von Itapetininga in einer alten stillgelegten Werkstatt, zusammen mit andern „Menschen der Strasse“ eine sehr einfache Wohnmöglichkeit bekommen können.
„Haus Maria Theresia“
In Teresina besuchten drei Reiseteilnehmerinnen das „Centro de Promoção Irmã Maria Theresia“ der Ilanzer Dominikanerinnen. Es befindet sich im Stadtrandviertel „Vila Nossa Senhora da Guía“. Wöchentlich besuchen rund 140 Mädchen und Knaben dieses Zentrum. Zu den ständigen Angebo-ten des Sozialzentrums gehört die Hausaufgabenhilfe für die Kinder der ersten bis zur sechsten Klasse. Neben der beliebten „Capoeira“, einem Tanz in Kampfform, und Ballett für Mädchen werden verschiedene andere kulturelle und handwerkliche Möglichkeiten für rund 60 Jugendliche und 80 junge Erwachsene angeboten. Hauptinhalte der Erwachsenenbildung sind Erziehungsfragen und die Bewusstseinsbildung im Hinblick auf christliche Werte wie Solidarität, Respekt und Dialog. Auch der öffentliche Protest gegen Missstände gehört zum Staatskundeunterricht.
Bei einem Besuch in einer armen Familie waren die Besucherinnen besonders betroffen von der Tatsache, dass Mädchen Mütter werden. Eine 15-Jährige Frau zeigte mit Stolz ihr einige Wochen altes Kleinkind. Sie lebt in sehr engen Wohnverhältnissen gemeinsam mit ihrer Mutter, die dro-genabhängig ist. Bei einem andern Besuch trafen sie eine 17-jährige Mutter mit Zwillingen an. Sie erfuhren durch die Schwestern, dass die finanzielle Not immer grösser wird und dadurch die Familien nicht mehr genug zu essen haben. Die Schwestern helfen nach ihren Möglichkeiten gezielt, auch zum Beispiel mit Wegwerfwindeln.
„Landpastoral Teresina“
Einen Besuch ganz anderer Art machten die Reiseteilnehmerinnen einige Kilometer vor der Stadt. Zehn Bauernfamilien leben auf rund 30 Hektaren Land in einer kleinen, selbstgebauten Siedlung. Sie haben eine bestens funktionierende Kooperative gegründet, bebauen gemeinsam das Land, organisieren zusammen mit der Caritas Weiterbildungskurse oder gemeinschaftsbildende Anlässe. Weil sie dann jedoch die Stromrechnung von umgerechnet etwa 1‘200 Franken nicht mehr be-zahlen konnten, kappte das Elektrizitätsunternehmen die Stromzufuhr. Die Bewässerungspumpe lieferte kein Wasser mehr, die Pflanzungen verdorrten, und die Bauernfamilien sind nun auf Nothilfe durch die örtliche Caritas angewiesen.
„CESIM“
Im „CESIM“ erlebten die Reiseteilnehmenden verschiedene Anlässe: Eine fulminante Aufführung von Capoeira-Tänzen, eine berührende Präsentation regionaler Volkstänze und eine Rhythmusgruppe mit ihren Klängen aus dem Staat Pernambuco. Der Einbezug von Menschen mit Behinderungen wird vorzüglich gelöst: Sie gehören natürlich ganz dazu wie in einer grossen Familie. Die Kinder, die das Sozialzentrum besuchen, erfahren viel „Carinho“ (Zuwendung) und können diese auch herzlich erwidern: Hunderte von Umarmungen durften die Reiseteilnehmenden empfangen und zurückgeben!
Im „CESIM“ sind über 300 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren eingeschrieben. Der Besuch eines Kurses ist verbindlich für alle. Bei den Treffen mit den Lehrerinnen, den Mitarbeiterinnen, dem Vereinsvorstand, dem Capoeira-Lehrer oder der Rhythmus-Lehrerin konnten wir eine bewundernswerte, grosse Motivation und Kompetenz feststellen und zollten allen unsern grossen Respekt für ihr Engagement. Allen ist die Wichtigkeit dieser Sozialarbeit in diesem Projekt bewusst.
In der Nähe des „CESIM“ befindet sich ein staatliches Gesundheitszentrum. Viele Kinder des „CESIM“ sind auch dort eingeschrieben und können die Sprechstunden von Ärzten und Zahnärzten kostenlos besuchen oder erhalten die nötigen Medikamente. In diesem Zentrum sind auch Sozialarbeiter anwesend, die von jeder Familie Unterlagen haben, um die konkrete Hilfe zu planen und zu dokumentieren. Frauen und Männer erhalten auch Hilfe bei der Familienplanung. Zur Zeit unseres Besuchs wurden durch dieses staatliche Gesundheitszentrum 60 schwangere Frauen begleitet.
Bei Besuchen in Familien oder bei Einzelpersonen zeigte sich deutlich, welch grosses Vertrauen und Zuneigung die Armen zu den Ilanzer Dominikanerinnen haben. Als Beispiel erwähne ich den Besuch bei Madalena. Wir kamen in eine absolut bedrückende Wohnsituation hinein. Die drogenabhängige Mutter zeigte uns freimütig ihre Elendsbehausung. Sie hat absolut kein Geld mehr. Sie kann weder Strom noch Wasser kaufen. Gütige Nachbarn lassen sie illegal teilhaben an ihren Anschlüssen. Die Kinder verbleiben zuhause. Doch die die Reisegruppe begleitende Sozialarbeiterin kann die Mutter überzeugen, dass genau ihre Kinder im „CESIM“ willkommen sind und dort ihr tägliches Essen bekommen. Bei einer andern Familie, die in erbärmlichsten Verhältnissen haust und die 10 Kinder hat, erfuhren wir, dass die ältesten Söhne im Gefängnis sind.
Die Schulleiterin einer von uns besuchten Schule erzählte, dass die Kinder am Freitag nach Hause gehen und am Montagmorgen wieder zur Schule kommen, ohne in der Zwischenzeit eine wirkliche Mahlzeit bekommen zu haben. Auch wurden in der grossen Schule eine Dusche und ein Kleiderdepot eingerichtet, weil die Kinder nach dem Wochenende oft verdreckt und verwahrlost zum Unterricht erschienen sind.
„SOAMPARO“
Paranapanema ist knapp nach zwei Stunden Autofahrt erreicht. Das Sozialzentrum im kleinen Land-städtchen besteht aus der grossen „Casa Encantada“ („dem herzlichen Haus“), einer Siedlung von 110 Häusern und einem Ausbildungszentrum mit grossen Schulungsräumen. Wir erlebten die vielen Kinder als sehr lebendig und fröhlich. Sie zeigten uns einen lustigen Tanz und andere Bewegungsspiele. Der Gitarrenlehrer konnte die Mädchen und Buben zum eifrigen Lernen animieren. Bei den Kleinen erzählte er mit seiner Gitarre eine Geschichte, die die Kinder lebhaft nachspielten. Bevor sie sich am Nachmittag zur Schule begaben, bekamen sie noch ihr schmackhaftes und gesundes Mittagessen.
In den Schulungsräumen erlebten wir eine Gruppe von etwa 20 Jugendlichen, die gerade im Begriff waren, einen PC-Kurs zu beginnen. Sie alle erhoffen sich von diesem bessere Chancen, um später eine Anstellung zu finden.
Die Siedlung besteht aus 110 einladenden Häusern. Sie sind gedacht als Übergangs-Wohnmöglichkeit. Die Bewohnerinnen bezahlen eine sehr reduzierte Miete und können dadurch vielleicht gar ein eigenes kleines Häuschen bauen. Eine Familienfrau erzählte uns, dass sie nun schon – obwohl sie erst im Januar eingezogen war – bereits so viel gespart hat, dass sie ihr eigenes Grundstück kaufen konnte und mit dem Hausbau begonnen hat.
„Quintal da Criança“
In der Mega-Grossstadt São Paulo, einer der bevölkerungsreichsten Städte der Welt, besuchten wir das Projekt „Quintal da Criança“, das Schwester Derly Fabres leitet. Sie führt gemeinsam mit ihren Angestellten verschiedene Kleinkinderhorte und bietet berufliche Bildungen von Frauen im Bereich Schneiderei und Näherei, Mode-Design sowie Maniküre und Pediküre an. Mittels dieser Kurse und der erworbenen Kenntnisse können die Mütter ein kleines Einkommen erwirtschaften.
Überrascht wurde die Reisegruppe durch den Empfang im grossen Versammlungsraum: Sieben junge Menschen hatten die Ausbildung zum Bäcker gerade abgeschlossen. Dieser Kurs wurde durch die Missionsprokur der Ilanzer Dominikanerinnen finanziert. Die jungen Berufsleute durften nun während unseres Besuchs aus unsern Händen ihr Diplom erhalten, was sie dann auch mit sichtlich grossem Stolz und Befriedigung taten. Geplant ist, dass insgesamt 250 Personen zu Bäckern ausgebildet werden.
Der Spaziergang zwischen den drei Häusern des Sozialprojektes offenbarte denn auch die riesigen sozialen Probleme, unter denen die Menschen leiden, etwa dort, wo die Abfallsammler unter der Brücke leben, die „Menschen der Strasse“ ihre Plastikhütten aufbauen oder Männer in ihren Wolldecken mitten auf den Gehsteigen schlafen.
„Dom Gastão“
Am Rande des grossen Parks „Jardim da Luz“ in São Paulo befindet sich die Kindertagesstätte „Dom Gastão“ in einem denkmalgeschützten, fast 100-jährigen Haus. Kleinkinder bis zu knapp vier Jahren werden unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Religion oder sozialem Status aufgenommen und be-treut.
Die Ilanzer Dominikanerinnen, die dieses Haus gemeinsam mit Erzieherinnen leiten, sind äusserst engagiert und versuchen, mit den wenigen Geldmitteln das Beste für die Kinder der „Menschen der Strasse“ oder für die Armensiedlungen der Umgebung zu machen. Neben der motorischen Beschäftigung der Kinder, dem lustigen Spielen oder der musischen Förderung bekommen die Kinder jeden Tag ihr Essen, das sie oft am Wochenende, wenn der Kinderhort geschlossen ist, vermissen müssen.
das freie Wochenende, die Auswertungstage und: Ein unheimliches Erlebnis!
Nach all diesen strengen Besuchen, nach den zu Herzen gehenden Eindrücken und den emo-tionalen „Wechselbädern“ hatte sich die Reisegruppe ein freies Wochenende verdient. Den Samstagabend verbachte die Gruppe auf einem kleinen Gut am südlichen Stadtrand bei Freunden des „CESIM“ und genoss einen „Caipirinha“.
Am Sonntag erlebten wir einen eindrücklichen Gottesdienst in der Pfarrei, in der sich das Regi-onalhaus der Ilanzer Dominikanerinnen befindet. Ausspannen bei einem „Churrasco“ konnten sich dann alle auf dem kleinen Landgut der Schwestern, um dann am Montag und Dienstag zwei arbeitsreiche Tage mit der Auswertung der Besuche vorzunehmen sowie zwei Kurzbesuche im „Bem Me Quer“ und dem „EPAM“ zu machen.
Eine sehr bedrückende Erfahrung machten wir alle am Dienstag, 19. August, als es gegen Mittag immer dunkler wurde. Niemand konnte es sich erklären, was geschah: Autos mussten mit Licht fahren, der Himmel war verdunkelt wie beim Einnachten, die Sonne verschwunden. Am nächsten Tag erfuhren wir dann, dass der ganze Süden des Bundesstaates São Paulo von einer riesigen Rauchwolke heimgesucht worden war, die von den tausenden von ausgedehnten Wald- und Flurbränden ausgelöst worden war.
die touristische Reise und die Wallfahrt nach Aparecida
Die letzten Tage in Brasilien waren geprägt von einer intensiven Stadtbesichtigung der Grossstadt São Paulo sowie dem Besuch des nationalen Wallfahrtsortes Aparecida, einige Autostunden von São Paulo entfernt.
Der Pilgergottesdienst und der ausgedehnte Besuch des Wallfahrtsbezirks waren sehr eindrücklich. Vor allem die künstlerische Ausgestaltung der Wallfahrtsbasilika liessen uns Pilger nur noch staunen:
Die gesamte Flora und Fauna, Flüsse und Landschaften, die Märtyrer und die Armen, Tiere und Menschen des Landes, die himmlischen Beschützer und das göttliche Licht finden sich in wunderbarster Weise in diesem Juwel dargestellt.
Ein Abstecher zur Atlantik Küste während der Rückfahrt nach São Paulo zeigte den Reiseteilnehmenden eine weitere Facette dieses Riesenlandes. Die Besuchs- und Projektreise endete am 24. August 2019 mit dem Rückflug in die Schweiz.
Pius Süess
Leiter Missionsprokur bis 31. März 2020